Der Wecker klingelt um 5 Uhr morgens in meiner Wohnung am Reitmayrgäßchen 7 in Augsburg. Am Vorabend habe ich meine Radierplatten vorbereitet. Ich packe alles ein und mache mich auf den Weg zum Augsburger Schlachthof. Drei Monate lang gehe ich jeden Morgen in den Schlachthof. Meine Kommilitoninnen und Kommilitonen halten mich für ein wenig crazy. Ich dokumentiere zeichnerisch was ich sehe und erlebe. Nicht in Farbe, sondern nur mit Bleistift und Radiernadel. Für meine illustrative Diplomarbeit zu Berthold Brechts Text „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Mehr noch als Brechts Text fasziniert mich in dieser Zeit der amerikanische Autor Upton Sinclair, geboren am 20. September 1878 in Baltimore und gestorben am 25. November 1968 in Bound Brook, New Jersey. Sinclair kannte beide Seiten des Lebens und die extremen Ausprägungen der Gesellschaft bitterer Armut und wohlhabendem Luxus. Es ist das Buch „The Jungle“ in Deutsch „Der Sumpf“ und später „Der Dschungel“, der Sinclair als Autor zum Durchbruch verhilft. Es ist ein Enthüllungsroman, ähnlich wie es Günter Wallraff später machen wird. Sinclair beschreibt und dokumentiert eindrucksvoll die Arbeitsbedingungen und Hygieneverhältnisse in der US-amerikanischen Fleischkonservenindustrie um 1900.

Inspiriert von „The Jungle“

Albert Einstein sprach über Sinclair und widmete ihm Zeilen. Berthold Brecht wurde von „The Jungle“ inspiriert für sein episches Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Das Drama entstand 1929/30 in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Brecht legt den Handlungsort in die Union Stock Yards, die Schlachthöfe von Chicago, und greift daneben in seinem Drama die Figur der Jeanne d´Arc und das Thema Heilsarmee auf. Auch Parallelen zum Werk George Bernhard Shaws „Major Barbara“ sind erkennbar. Um mich dem Thema Anfang der 1990er Jahre zu nähern, und nicht nur auf die literarischen Vorlagen der frühen Dekaden des Jahrhunderts zurückzugreifen, suchte ich den Kontakt zum Augsburger Schlachthof. Dessen damaliger Direktor stand dem Projekt aufgeschlossen gegenüber, da ich nicht fotografieren, sondern nur zeichnen wollte. Und ich kannte die Bilder von Lovis Corinth und dessen Arbeit „Im Schlachthaus“ aus dem Jahr 1893.

Der Direktor führte mich herum und machte mir klar, dass ich mir weiße Gummistiefel zu kaufen habe, da diese in einem Schlachthof, der nach den Regularien der Europäischen Union arbeitet, Pflicht seien. Bei diesem ersten Rundgang wurden die Schlachtsäle gerade gereinigt, es war Mittag und die Arbeit für diesen Tag getan. Als wir in dem Schlachtraum für Schweine waren knirschte es unter meinen Sohlen. Als ich den Direktor fragte was das ist, sagte er: Schweineaugen. Der Direktor gestattete mir, mich völlig frei auf dem Gelände zu bewegen und zu zeichnen. Es begannen drei intensive Monate an deren Ende eine Mappe mit Radierungen und unzählige Skizzenbücher standen.

Augsburg, Brecht und der Schlachthof

1898 baute die Stadt Augsburg östlich des Proviantbaches ihren neuen Schlacht- und Viehhof, die zur damaligen Zeit als die modernste ihrer Art im deutschen Kaiserreich gab. Investiert wurden drei Millionen Mark. 1900 nahm der neue Schlachthof seinen Betrieb auf. Berthold Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren. Brecht verbrachte seine Jugend im Lechviertel und dort steht heute noch das Brechthaus „Auf dem Rain 7“. In meiner Augsburger Studentenzeit lebte ich eine Zeitlang „Auf dem Rain 3“ und wir zitierten als Münchner immer fröhlich Brecht mit einem Satz, der nach heutiger Kenntnis gar nicht von ihm stammen soll: „Das schönste an Augsburg ist der D-Zug nach München“. Der soll, so schreibt es die Stadt Augsburg heute, von Hans Otto Münsterer stammen, der in seinen Erinnerungen an Brecht gesagt haben soll, dass „dieser – hätte man ihn nach dem geistigen Raum Augsburgs gefragt – so geantwortet hätte.“ In der „Augsburger Abendzeitung“ habe das Schnellzug-Zitat bereits drei Jahre vor der Geburt Brechts gestanden.

1990 als ich dort zeichnete war der Schlachthof in Augsburg noch in der alten Gebäudesubstanz in Betrieb, was einen besonderen Reiz ausmachte. Die alten Backsteinfassaden, die Stahlträger, die Eisenbahnanbindung und darin der Schlacht- und Verwaltungsbetrieb strömten einen besonderen Reiz aus. Zwischen den Gebäuden waren riesige Kastanien gewachsen. Vor allem die Kälberhalle, dreischiffig im Stil einer Basilika errichtet, erinnerte mehr an eine Kathedrale als einen Ort, in dem Tiere zusammengetrieben wurden, um kurze Zeit später getötet zu werden. Rundbogenfenster, eine gebogene Eisenkonstruktion und die Viehunterstände zeugen von einer Industriekultur, die spürbar wurde.

Menschen statt Blut

Schnell wurde mir klar, dass es sich nicht so sehr in blutroten Farben zu schwelgen oder sich als Künstler in Blut zu suhlen gilt, sondern die Abläufe und die Menschen fanden mein Interesse. Der industrielle Prozess und der Umgang der Menschen damit. Wenn die Viehhändler, zumeist ältere Herren, gut gekleidet mit Hut, einem grauen Arbeitsmantel und einem Stock die Rinder in die Flanken stießen und sich unterhielten, der Schlachtvorgang eines Rindes exakt 20 Minuten dauerte und wenn die ersten Arbeiter mit dem Bolzenschussgerät in die Pause gingen, am Ende des Fließbandes noch gearbeitet wurde. Kamen die, die die Rinder vom Leben in den Tod beförderten aus der Pause zurück, war das Band leergelaufen und die am Ende gingen zu Kaffee und Stulle. 400 Rinder wurden in wenigen Stunden getötet, entblutet, gehäutet und zu Hälften mit gigantischen Sägen geteilt. Männer mit Hoodie trugen die Viertel davon. Ein Mann arbeitete im Keller alleine zwischen Salz, das die eisernen Tür- und Fensterrahmen zerfressen hatte. Sein Gesicht gegerbt von all dem Salz, mit dem er Schweinedärme für Wurstpellen pökelte. Druckluft zischte in die Därme, die sich in diesem Moment lustig in den Raum kringelten und die der Mann so prüfte, ob sie dicht sind. Nach getaner Arbeit um 9 Uhr machten sich die Arbeiter Weißwürste in Blechkanistern mit heißem Wasser warm und zuzelten sie auf der Rampe leer.

Einer meiner betreuenden Professoren wollte, dass ich mich in roter Farbe suhle, nachdem er Blut in einem meiner Skizzenbücher sah, das beim Zeichnen in dieses getropft war. Meine Zeichnungen und Radierungen waren ihm zu wenig blutrünstig, zu dokumentarisch. Ich habe den Professor gewechselt. Die Radierungen wurden nur einmal von mir selbst auf der Druckpresse im Drucksaal der Augsburger Fachhochschule in einer Auflage von drei Exemplaren pro Blatt gedruckt und jeweils ein Druck als Artist Proof ausgewählt. Die beiden Probedrucke wurden vernichtet, so dass es aktuell nur diese eine Auflage gibt.

Die Arbeiten wurden im Rahmen einer Ausstellung in der Fachhochschule Augsburg in der Henisiusstraße bei der Präsentation der Diplomarbeiten gezeigt und einmal in der Hartgalerie Germering.

Fotos der Radierungen finden sich auf meinem Instagram-Account: https://www.instagram.com/ateliergoral/

Text: Andi Goral